Ralf Rainer Stegemann: Portraits

KOSTÜMVERLEIH STEGEMANN

Der Prinzen-Bekleider

Im Fasching haben Kostümverleiher Hochkonjunktur. Dann ist die
Jahreszeit hereingebrochen, in der nicht nur Theater- und Filmproduktionen
im Kostümfundus das richtige Gewand suchen.

Ein katholische Pfarrer kostet 90 Euro. Billiger ist da schon der Mönch mit 35 Euro, ausgefallener der Astronaut, für den 150 Euro berappt werden müssen. Dafür gibt es aber auch einen Silberoverall, einen gespritzten Motorradhelm mit Verbindungsschlauch zum Overall, Handschuhe, Gürtel, Silberstiefel –eben alles, was einen Astronauten ausmacht Wer für einen Faschingsball das passende Kostüm sucht, der ist bei Rainer Stegemann in München richtig. Seit dreißig Jahren arbeitet der Schneidermeister für Theater-, Film- und Fernsehproduktionen. Für den Regisseur Rainer Werner Fassbinder hat er genauso Kostüme gefertigt wie für Produktionen von Billy Wilder oder Ingmar Bergmann.

Nach Entwürfen von Kar1 Lagerfeld hat er 1987 die Inszenierung von Hofmannsthals, “Der Schwierige" bei den Salzburger Festspielen ausgestattet. Bis 1997 hat Stegemann zehn Jahre lang das Ballett für das Wiener Neujahrskonzert mit Kostümen beliefert. Jetzt ist er für die Kostüme bei der neuen Fernsehshow von Carmen Nebel im ZDF verantwortlich.

Viel hat sich in dieser Zeit angesammelt, das nach Aufführung oder Fernsehshow in 'den Fundus von Rainer Stegemann gewandert ist. Nur selten komme es vor, dass sich Darsteller in ihr Kostüm verlieben und es sogar kaufen. Die Produktionsfirmen erwerben die Kleider dagegen nie. Sie übernehmen nur zwei Drittel der Herstellungskosten. Das andere Drittel muss Stegemann selbst aufbringen. Das kann teuer werden, weil Kostüme bis zu einigen tausend Euro verschlingen können. Deshalb werden die Kostüme anschließend verliehen. Mindestens dreimal muss Stegemann ein Kostüm verleihen, um die Selbstkosten zu decken. Weil auch beim Fernsehen gespart werden muss, greift man auch dort mehr und mehr auf gebrauchte Kostüme zurück. Neu- Anfertigungen gibt es immer weniger. Angestellte Mitarbeiter hat Stegemann deshalb nicht mehr.  Er arbeitet nur noch mit Aushilfskräften, die fertig stellen, was er entwirft und zuschneidet.

Etwa 12000 Einzelteile von Kostümen, 2500 Paar Schuhe, 800 bis tausend Kopfbedeckungen sind in den vergangenen dreißig Jahren zusammengekommen, schätzt der 61 Jahre alte Kostümbildner. Gelagert wird das auf 500 Quadratmetern in München-Schwabing. Auf zwei Ebene sind die Räume dicht behängt mit dem, was Stegemann in den vergangenen Jahren angefertigt hat. Nach einem bestimmten System, das nur er durchschaut, hängt dann eine Korsage neben einem Abendkleid oder einem Prinzenkostüm.

Mit Faschingsprinzen kennt sich Stegemann aus. Sei Jahren stattet er das Prinzenpaar der Münchner Würmesia mit dem königlichen Gewand aus. In diesem Jahr durfte er auch das Kostüm des Narhalla- Prinzen anfertigen. Höchste Qualität wird dabei natürlich groß geschrieben. „Es ist mit Sicherheit falsch, am Material zu sparen", sagt Stegemann. Mit Billigmaterialien könne er nicht so schneidern, wie er es sich vorstelle. Daneben muss das Kostüm zum jeweiligen Träger passen und ihm gefallen. Nichts ist schlimmer für ihn als richtige Faschingsmuffel, die sich nicht verkleiden wollen. Für sie das passende Kostüm zu finden, sei besonders schwierig.

Das große Geschäft lässt sich im Fasching aber seit ein paar Jahren nicht mehr machen. Noch bis vor drei Jahren sei das Faschingsgeschäft besser gelaufen, sagt Stegemann. „Entweder ist es den Leuten zu teuer, sich im Fasching zu verkleiden, oder es ist ihnen die Lust daran vergangen“.  Vielleicht liegt es auch daran, dass Stegemann für die laufende Saison wieder einmal keinen Trend im Faschingsgeschehen ausmachen kann und jeder da anzieht, was er auf dem Dachboden findet. Der Kostümverleih bekommt es zu spüren.

 Bayernkurier 19.02. 2004; Monika Stephan

 

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Herren-Rundschau 12/96 Seiten 38/39 (Doe)

Sein und Design:

Rainer Stegemann, die Nummer eins im Showgeschäft
Konventionen interessieren ihn nicht. Immerhin kann er sich diese Einstellung leisten, denn der gelernte Schneider und Kostümausstatter Rainer Stegemann steht inzwischen im Showgeschäft konkurrenzlos da.

   Wer jetzt einen gestylten Erfolgstyp erwartet, wenn Rainer Stegemann die Tür zu seinem Schwabinger Atelier öffnet, der hat sich gründlich geirrt. Dem Besucher steht ein Künstler und Individualist gegenüber, dessen Erscheinungsbild eher an die 68er Zeit erinnert: legere Jeansklamotten, die lange Haare nach hinten gebunden. Wie ist er ausgerechnet in der Glamourwelt gelandet?

   Angefangen hat die ungewöhnliche Karriere eigentlich ganz unspektakulär. Nach den unterschiedlichsten Ausbildungen, u.a. als Dekorateur bei Oberpollinger und einer dreijährigen Ausbildung als Landwirt auf dem väterlichen Bauernhof, tritt er mit 22 Jahren in die Fußstapfen der Mutter, die gelernte Schneiderin ist, spürt seine Berufung.   Sein Leben verläuft von jetzt an geradlinig. Immer schneller steigt er die Treppe zum Erfolg empor. 1967 besteht er die Gesellenprüfung in Landsberg als Innungssieger. Und ist es nur Zufall, dass seine Cousine als Cutterin auf dem Bavaria Filmgelände im Geiselgasteig arbeitet und ihm eine Gesellenstelle im gerade neueröffneten Kostümatelier vermittelt?   Wichtige Kontakte im Filmmetier bahnen sich an. Es folgt ein 3/4 Jahr in der Konfektion. "Das möchte ich jedem prinzipiell ans Herz legen", lautet sein Tipp für den Nachwuchs. Dort lernte er, was für seine weitere Karriere Bedingung ist: Tempo, rationelles arbeiten und "alte Zöpfe abzulegen". Flott absolviert er weitere berufliche Stationen: 1972 Abschluss auf der Meisterschule für Mode, 1973 Eröffnung des ersten Ateliers in Giesing.   Sein endgültiges Künstlerdomizil findet er 1975. Die TV-Prominenz kleidet er seither im zentral gelegenen Schwabinger Atelier auf einer ganzen Etage in der Marschallstür. 1 ein. Neben vereinzelten Privatkunden laufen die Auftragsproduktionen für die Bavaria Filmgesellschaft weiter. Mit der bekannten Kostümbildnerin Charlotte Flemming, der großen alten Dame des deutschen Films, stattet er schon bald Filme von so berühmten Regisseuren wie Billy Wilder und Ingmar Bergmann aus. "Erfolgsmäßig ging es pausenlos bergauf, finanziell nicht", kommentiert Stegemann diese Lebensphase trocken.

Kostümverleih

   Sein Problem: das Leihsystem der Filmbranche. Den Filmemachern sind die Kaufpreise für Maßkostüme schlicht zu teuer. Was tun? Er hat die Wahl, entweder auf Aufträge zu verzichten oder in das Neuleihverfahren einzusteigen. Er entscheidet sich für letzteres. 66% des Gesamtpreises stellt er in Rechnung, die Kostüme erhält er nach Drehtermin zurück. Diese kann er nach Sendetermin erneut verleihen. "Das Verleihsystem hat sich leider erst nach 20 Jahren bezahlt gemacht."   Als schwierige Anlaufzeit beschreibt er die ersten Jahre. Nur langsam dringt er in das Terrain der bekannten Kostümausstatter wie etwa Salon Gisela, Heiler oder Theaterkunst ein. Anfangs kleidet er für TV-Shows nur die Herren ein, doch als der Salon Gisela 1988 die Türen schließt, werden auch die Damenkostüme exklusiv bei ihm geordert.   Stegemann hat sich inzwischen einen Namen in der Filmbranche gemacht. mit der Zeit stattete alles aus, was damals an großen Shows gelaufen ist: Musik ist Trumpf, Harald-Junke-Show, Verstehen sie Spaß etc. Bald ist er die Nummer eines im Showgeschäft.   Sein eigentliches Kapital besteht heute aus einer riesigen Kostümsammlung. Das Atelier quillt förmlich über. Der Fundus zählt rund 20 000 Einzelteile. Auf fahrbaren Kleiderstangen, nach Größen geordnet, hängen überwiegend Show- und Revuekostüme. In Regalen und auf dem Boden stapeln sich die passenden Requisiten vom Altertum bis zur Neuzeit. Schuhe, Hüte, Handschuhe etc. Was die Auftraggeber schätzen?  Die Filmkostüme sind topp in Schuss gehalten. Maßkostüme werden nicht strapaziert. Aufwendiges maximal zweimal pro Jahr verliehen.   Sein Erfolgsgeheimnis sieht Stegemann in seinem Einfühlungsvermögen. "Ich kann mich in die Skizzen der jeweiligen Kostümbildner exakt hineindenken und erlaube mir keine  Eigeninterpretationen." Seine Erfahrung im Umgang mit dem Filmmetier: "Je kompetenter die Leute, um so unkomplizierter. Je geringer der Ruf, um so zickiger." Heute ist er froh, dass er keine launische Privatkundschaft bei der Stange halten muss. Eine Bereicherung ist für ihn dagegen Teamwork mit so bekannten Kostümbildnern wie Barbara Baum, die sämtliche Fassbinder-Produktionen erstellt hat, oder dem "Universalgenie" und Opernausstatter Pet Halmen.

In der Filmwelt herrschen andere Gesetze

   Stegemanns Plus ist, dass er es versteht, mit Chaos und Streß umzugehen. Er bleibt gelassen, auch wenn es wie im Taubenschlag zugeht und das Telefon pausenlos klingelt. Auch das macht ihm neben seinem Fachwissen und seiner Sensibilität so beliebt. Sei Auftragsspektrum ist vielseitig. Er ist auch international gefragt. Als die Oper Nizza sich mit ihrem Zuschneider überwirft, fliegt er sofort an Ort und Stelle. Drei Tage und Nächte arbeitet er durch, schneidet die Musterkostüme auf der Puppe zu. Die Premiere ist gerettet.
   Arbeit mit der Oper, dem Theater, dem Fernsehen, das heißt oft Hektik und Zeitdruck bis zur letzten Sekunde. Ein Beispiel: Vor einer Woche Grundbesprechung in Essen für das ZDF-Fernsehballett mit Regisseur, Choreograph, Orchesterleiter, Kostümbildner. Neunzig Kostüme sollen in nur fünf Wochen zur Probe in Berlin fertig sein, doch Musik und Choreographie stehen immer noch nicht fest. Stegemann lässt sich nicht aus der Ruhe bringen. Zum Schluss klappt alles doch irgendwie, mit ein bisschen Improvisation und ein bisschen Branchen-Know-how.
   Wichtig ist bei einem Auftragsvolumen bis zu 100 Kostümen, ist eine stimmige Gesamtlinie als Konzept aus einer Hand. Voraussetzungen, um alle Problemstellungen a priori auszuklammern, sind ein Perfekter Zuschnitt und rationelle Verarbeitung. Maß wird da natürlich anders verarbeitet als Theaterroben, deren Innenleben häufig offene Nahtkanten aufzuweisen müssen, damit im Zweifelsfall blitzschnell geändert werden kann. Handarbeiten werden im Atelier Stegemann generell minimiert. Strasssteine z.B. ausschließlich fixiert. Vorteil: "Das ist praktisch und es entstehen optimale Phantasiemuster."
Sein Mitarbeiterteam hat Stegemann auf Selbständigkeit trainiert. Neben Freischaffenden Meistern arbeiten vier Gesellen und sechs (!) Lehrlinge auf beengtem Raum. "Ich arbeit am liebsten mit Personal, das ich von Anfang an selbst ausgebildet habe."
   Seit dem Tod von Eva Maria Schnöder ruft das ZDF bei Stegemann an. Doch er selbst ist gar nicht so gern als Kostümbildner unterwegs. "Zu viele Termine und Reisen in Bahn und Flugzeug." Falls das Team einmal nicht selbständig arbeiten kann, müssen in der Ausfallzeit Überstunden abgefeiert werden. Seine letzten Auftragsproduktionen: Gräfin Mariza, Orpheus in der Unterwelt.

TV-Prominenz drückt sich die Klinke in die Hand

   Solistenkostüme fertigt Stegemann exklusiv in seinem Atelier nach Maß an. Die zweite und dritte Garnitur dagegen wird meist aus dem Fundus bestückt. Maria Schell war über Jahre Dauergast, aber auch bei anderen TV-Stars hat er oft das Maßband angelegt, so bei Katharina Valente, Dieter Thomas Heck, Mario Adorf, René Kollo, Peter Alexander, Hans Clarin, Hannelore Elsner und vielen anderen. Im intimen Umgang mit der Prominenz agiert er nach eigener Aussage lässig, offen und großzügig.

Kein klassischer Schneider

   Stegemann ist kein klassischer Schneider, der auf Millimeterarbeit insistiert. "Mit Kleinkariertheit kommt man nicht weiter." Ein kleiner Seitenhieb auf einige seiner Kollegen. Als Outsider der Branche fühlt sich Stegemann häufig im Zwiespalt. Trotz massiver Kritik am eigenen Berufsstand fühlt er sich dem Handwerk nach wie vor verbunden. Doch die Zunft muss herbe Schelte einstecken. Er nimmt kein Blatt vor den Mund. "Ich kenne keinen Berufszweig, der so viele Jahre verschlafen hat." Die typische Spezies der Damen- und Herrenschneider hat für ihn den Zug der Zeit verpasst. "Da hat man jahrzehntelang auf Fachwissen gepocht, das nicht zu finanzieren war."

Nachwuchsarbeit

   "Wir haben einen sehr vielseitigen Beruf", deshalb bemüht sich Stegemann redlich, seinen Nachwuchs so vielseitig wie möglich auszubilden. "Es kann doch nicht das Ziel sein, zur Gesellenprüfung nur ein Damenkostüm perfekt anfertigen zu können. Mit ungeheurer Arroganz hat man jahrzehntelang vermeintliche Couturearbeit à la Schulze-Varell gepredigt. Dabei hatte das Gros der kleinen Schneider gar keine Klientel, die das bezahlen konnte."
   Dennoch bleibet seine Kritik immer konstruktiv. Wenn er die Zeit aufbringt, besucht er stets die Münchner Innungsveranstaltungen. Auch äußert er sich positiv über das noch nie da gewesene Angebot an Kursen. Traurig stimmen ihn dagegen die Sitzungen selbst. "Das Auseinanderdividieren von Jung und Alt, der fehlende Zusammenhalt."

Zukunftsprognose

   Seine düstere Zukunftsprognose: "Der konventionelle Beruf des Schneiders wird über kurz der lang aussterben." Leute, wie Manfred Schneider, die zeitgemäßen Musterkollektionen erarbeiten, ja, die werden seiner Ansicht nach überleben. Was fehlt? Gesellen, die bereit sind, in dem Beruf zu arbeiten und nicht in die Industrie abwandern. Trotz aller Einwände wünscht er sich ein Weiterbestehen der Innung.
   Noch während er so über den Berufsstand sinniert, klingelt es schrill an der Tür. Eine Frauenstimme im Treppenhaus: "Entschuldigung, haben Sie vielleicht einen passenden Hut für mein Cancankleid?" Stegemann: "Normalerweise Sollten Sie einen Termin vereinbaren, aber warten Sie, wie wäre es mit diesem hier?" 


Herren-Rundschau 12/96 Seiten 38/39 (Doe)

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Beilage der SZ Nr. 58, 47. Internationale Handwerksmesse, Freitag, 10. März 1995

Herr über 15 000 Kleidungsstücke

Der Kostümfundus ist seine Lebensversicherung

Spezialität des Münchner Schneiders Ralf Rainer Stegemann
ist die Ausstattung von Theater- und Fernsehproduktionen
 

Von Petra Schlein

Die Tür zum Schneideratelier im ersten Stock ist weit geöffnet. Zehn Kartons stehen im Hausflur der Schwabinger Altbauwohnung zum Transport nach Hof bereit. Ein paar der Kisten, die mit ihren eingehängten Stangen wie tragbare Kleiderschränke aussehen, stehen noch aufgeklappt im Bügelzimmer. Die halbe Nacht hat es gedauert, bis Ralf Rainer Stegemann die Chor- und Ballettkostüme für eine Musiksendung des ZDF eingepackt hat. Der Münchner Film- und Theater Couturier geht noch einmal die Auftragsliste durch: 34 Kostüme für die Ensemble-Mitglieder des Opernchors Gera. 36 Kostüme für das ZDF-Fernsehballett, dazu die passenden Schuhe, Kopfbedeckungen und Strumpfhosen. Jedes Komplet hat er mit einem Namensschild versehen. 
   "Bei größeren Aufträgen reserviere ich mir die Nacht vor der Auslieferung, um die Kleider ganz in Ruhe einpacken zu können", erklärt Stegemann. Ansonsten arbeitet er nicht mehr wie früher 20 Stunden  täglich, an sieben Tagen in der Woche. Zehn Mitarbeiter, darunter zwei Lehrlinge,  unterstützen den Schneidermeister in seinem 200 Quadratmeter großen Atelier. Und doch: Die Verantwortung für einen Hut, der bei einer Theaterpremiere nicht auf dem Kopf des Hauptdarstellers sitzt, sondern im Schneideratelier vergessen wurde, lastet auf ihm.
    Noch einmal zählt Stegemann die Herrengarderobe für den letzten Karton ab. Dann klappt er den Deckel zu und schiebt die Kiste zu den anderen in den Hausflur hinaus. "Feierabend für Heute!" Die Tür schnappt in Schloss. Ein paar Stufen noch nach oben, dann ist der Schneidermeister bei sich zu Hause. In aller Frühe wird ein Lastwagen des ZDF die Kisten abholen.
    Doch mit dem Zuschneiden, Nähen und Verpacken der Textilien ist der Auftrag für ihn noch nicht beendet. Morgen Nachmittag fährt er seinen Kostümen nach Hof hinterher, um bei den letzen Anproben vor der Sendung "Melodien für Millionen" dabei zu sein. Gemeinsam mit Eva Maria Schröder, einer Kostümbildnerin vom ZDF, wird er vor Ort noch einmal Hand an seine Kunstwerke aus Stoff anlegen.  Den letzten Faden zupft er gerne persönlich zurecht. Die Entwürfe für die Chorszene aus Giuseppe Verdis Oper "Nabucco" legte die Kostümbildnerin von vornherein so großzügig an, dass auf eine Voranprobe mit den Sängern verzichtet werden konnte.
    Erst vor zwei Wochen erhielt Stegemann von Eva Maria Schröder den ZDF Auftrag. Die Kostümbildnerin, eine resolute rothaarige Dame, ließ sich von jedem einzelnen Chor- und Ballettmitglied die Körpermaße geben und faxte die Vorgaben dem Schneidermeister zu. Fast alle Einzelheiten bespricht er mit Eva Schröder am Telefon. "Das Ergebnis hängt von der guten Zusammenarbeit mit der Kostümbildnerin ab", betont Stegemann. "Es gibt Kostümbildner, die können sich nicht ausdrücken, weder auf dem Papier noch in Worten." Es komme nicht nur auf exakt ausgeführte Zeichnungen an. Für Filme, wie "Berlin Alexanderplatz" und "Lili Marleen" von Rainer Werner Fassbinder , habe er damals gemeinsam mit der Kostümbildnerin Barbara Baum einige Kleidungsstücke entworfen. Barbara Baum fertigte damals jedoch fast keine Zeichnungen an: "Sie kam jedes Mal mit einem Berg von Büchern zu mir", erinnert sich Stegemann. "Aus denen hat sie sich dann aus verschiedenen Abbildungen ihre Kostüme zusammengewürfelt."
    Von Eva Maria Schröder dagegen bekommt er Zeichnungen, bei denen man die Knöpfe auf den Kleidern abzählen kann. Sie sind ein eingespieltes Team. Fragen nach der Auswahl des Materials besprechen die beiden oft telefonisch. "häufig habe ich dabei schon einen bestimmten Stoff im Kopf", erklärt Stegemann. Um den Materialeinkauf kümmert er sich meistens selbst. Manchmal such er die Stoffe aus einem Katalog aus. Es kommt aber auch vor, dass er für ein besonders edles Tuch durch ganz München läuft oder zu einem Großhändler nach Augsburg fährt. 
    Um Viertel nach Acht Uhr - die Kisten vom Vorabend sind schon vor einer Stunde abgeholt worden - stehen seine Angestellten vor der Tür. Stegemanns Zug nach Hof fährt am frühen Nachmittag. Bis dahin gibt es noch eine Menge zu tun: Mit seinen Mitarbeitern geht er die für den Tag anstehenden Arbeiten durch. Ständig reißt ihn das Telefon aus den Besprechungen heraus. Meistens rufen die Kostümbildner, gequält von ihren nächtlichen Ideen, morgens zuerst an. "Rainer, an der Kleiderlänge müssen wir noch etwas ändern", heißt es dann. Oder: "Die Form von der Ausschnitt gefällt mir noch nicht." Die gewünschten Änderungen notiert sich Stegemann und heftet die Zettel an die entsprechenden Rohzuschnitte. Dazwischen bestellt er per Fax die Kleiderstoffe für seinen nächsten Auftrag.
    Dann endlich kann er sich seiner eigentlichen Aufgabe, dem Zuschneiden der Kostüme, widmen. Mit einer Elektroschere schneidet er nach eigener Vorlage roten Paillettenstoff aus. "Das erste Modell muss vom schnitt er so gut durchdacht sein, dass der Arbeitsaufwand für meine Mitarbeiter minimal ist", betont Stegemann. Schablonen verwendet er kaum, fast jedes Kostüm ist ein Unikat.  Den Rohzuschnitt befestigt er mit Nadeln auf der Schneiderpuppe. Maßnehmen, anpassen und immer wieder mit der Zeichnung der Kostümbildnerin vergleichen.
   Dann geht er ein paar Schritte zurück. Zeit für einen Kaffee, ein Moment zum Ausruhen. In zehn Minuten erwartet der Schneidermeister vier Models zur Anprobe der Paillettenkleider - Schönheiten, die für eine ZDF-Spielshow mit Fritz Egner eingekleidet werden sollen. Eine gute Stunde hat er, dann muss er zum Bahnhof. Dort kauft er sich am Kiosk noch eine Zeitung. Zum Lesen kommt er allerdings nicht mehr: Kurz nach der Abfahrt schläft Stegemann im Zugabteil ein.
   Eigentlich sollte er als Sohn eines Landwirts einmal den Bauernhof seines Vaters übernehmen. Doch sein Weg leitete ihn auf Umwegen zur Schneiderei: Nach der Mittleren Reife schloss er eine Lehre als Dekorateur ab, kehrte dann aber in den elterlichen Betrieb nach Landsberg am Lech zurück. Doch die Hofarbeit füllte ihn nicht aus. Ende der sechziger Jahre begann er, Vorhangstoffe zu Herrenhemden umzuarbeiten und entdeckte dadurch seine handwerkliche Begabung. Stegemann absolvierte eine Schneiderlehre, die er als Innungssieger abschloss. Nach seiner Gesellenzeit im Kostümatelier der Bavaria meldete er sich in der Münchner Meisterschule für Mode an. 1972 legte er neben 24 Damen als einziger Mann seine Meisterprüfung ab. Auch heuer noch ist die Schneiderei eine Domäne der Frauen: Im letzten Jahr meldeten sich bei der Handwerkskammer nur drei Schneider, aber 107 Schneiderinnen zur Meisterprüfung an.
   Allgemein sind die Aussichten in diesem Gewerbe eher mager. "Wenn man sich nicht in eine bestimmte Richtung spezialisiert, ist mit dem Beruf heute kaum noch Geld zu machen", erklärt Stegemann. "Die Schneiderei ist auf der sozialen Treppe ganz unten angesiedelt." Wer sich selbständig machen wolle, müsse viel Zeit und Geld investieren. Trotzdem eröffnete Stegemann 1973 sein eigenes Atelier. Mit Verve und Kreativität stürzte er sich in die Arbeit und schuf sich als zuverlässiger Schneider für Theater- und Fernsehproduktionen einen Namen.
   Ein bisschen verschlafen kommt Stegemann am frühen Abend in Hof an. Ein Taxi fährt ihn vom Bahnhof direkt zum Sendeort. Heute finden nur noch die Anproben für das Ballett-Ensemble statt. Die Nacht verbringt er im Hotel. Am nächsten Morgen kommt der Schneidermeister für die Choranproben wieder in die Sendehalle. Kurze Begrüßung mit Eva Maria Schröder, dann gehen sie gemeinsam mit einer Garderobiere in die Umkleidekabine.

Genaue Anweisungen

   Mit Erstaunen und fragenden Blicken zieht der Chor dort gerade die Kostüme an. "Muss ich den Gürtel um die Taille oder quer über meine Schultern binden?" fragt eine der Chordamen. Stegemann gibt genaue Anweisungen. Die Garderobiere näht einen zu tief geratenen Ausschnitt um. Eine Kopfbedeckung wird mit einem gezielten Scherenschnitt vergrößert. Ansonsten sitzt alles.
   Die Kostüme muss er an diesem Abend nicht selber zusammenpacken. Die Garderobieren und die Kostümbildnerin kümmern sich darum, dass die Kleidung wieder an ihn zurückgeschickt wird - möglichst vollzählig und unbeschädigt. Die ganze Ausstattung wurde vom ZDF nur ausgeliehen. Für die geleistete Arbeit erhält Stegemann 66 Prozent des eigentlichen Kaufpreises. In den meisten Fällen wollen die Auftraggeber die Kostüme allerdings nicht kaufen. Sie landen, so wie auch die Chor- und Ballettkleider dieser Produktion, nach Gebrauch im Kostümfundus von Stegemann.
   Extra angemietete Räumlichkeiten nur für Kleider, Hüte und Schuhe befinden sich im gleichen Haus wie das Atelier. Der Kostümfundus ist Stegemanns eigentliche Lebensversicherung. 15 000 Kleidungsstücke haben sich im Laufe der Jahre angesammelt. Aus ihnen schöpft er, wenn die Aufträge nur Tröpfchenweise kommen. "Eigentlich sollten viel mehr Kostüme ständig draußen sein", so Stegemann. "Ein Kleidungsstück muss mindestens dreimal verliehen werden, damit ich die Selbstkosten wieder reinhole." Erst danach fängt die Gewinnzone an.
   Es gehört viel Risikobereitschaft dazu, sich als Schneider selbständig zu machen. Von Auftraggebern, für die er schon lange näht, erhält er immer eine Anzahlung. Andere Produktionen muss er vollständig vorfinanzieren. Deshalb ist es besonders wichtig, dass die Kleider im Fundus nicht zu lange hängen bleiben. Leider könne er auffällige Kostüme nicht mehr als zweimal im Jahr vermieten. "Wenn morgen jemand bei mir anriefe und für eine 'Nabucco'- Produktion Chorkostüme bräuchte, würde ich sie niemals so kurz nacheinander vermieten", versichert Stegemann. Die Kunden müssten sich darauf verlassen, dass Kostüme, die sie aus dem Fundus bestellen, nicht kurz vorher für eine Sendung oder Theaterproduktion eines anderen Auftragsgebers verliehen wurden.
   In dieser Nacht kommt Stegemann erst spät nach Hause. Beim Aufschließen der Tür strömt ihm Blütenduft entgegen. Auf einem Beistelltisch im Bügelzimmer liegen Stoffbeutel, die mit Lavendel gefüllt sind. Nach der Rückkehr der Ballett- und Chorkostüme werden die Säckchen an Rosa Bändern als Mottenschutz zwischen den Kleidern hängen. Die Zeit im Kostümfundus kann lang werden. Doch zuerst müssen die weitgereisten Textilien in die Reinigung, bevor sie im Fundus auf ihren nächsten Auftritt warten.

                                  Beilage der SZ Nr. 58, 47. Internationale Handwerksmesse, Freitag, 10. März 1995

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Spezialisiert auf Show-Kostüme

   Im Fernsehen der ARD oder des ZDF wird kaum eine größere Show oder Unterhaltungssendung aufgeführt, an der nicht der Münchner Film- und Theatercouturier Ralf Rainer Stegemann für die Kostüme der Solisten, des Balletts oder sonstiger Mitwirkender gesorgt hat. In seinem über 200 qm großen Atelier in der Marschallstr. 1 an der Münchner Freiheit werden von ihm und neun weiteren Schneidern, Gesellen und Lehrlingen historische und supermoderne Kleider nach den Vorstellungen und Entwürfen der Regisseure oder Kostümbildner geschaffen. Aus früheren Produktionen warten außerdem in langen reihen über 3000 Kostümteile vom Hut bis zur Robe, Fräcke, Uniformen, Seidenstrümpfe, Stiefel und Lackschuhe auf ihre Wiederverwendung. 
   In München gibt es nur noch zwei vergleichbare Unternehmen, in der ganzen Bundesrepublik sind es nicht mehr als zehn. Zu den bekanntesten zählt zweifelsohne der Kostümsalon des im Sudetenland geborenen Ralf Rainer Stegemann, der mit seiner Familie 1945 nach Dresden, von dort nach Berlin und schließlich 1946 in das oberbayerische Traunstein kam, wo seine Eltern bis 1958 blieben. In Traunstein besuchte der Bub auch die Volksschule. Nach über vierzigjährigem Aufenthalt fühlt er sich heut ganz als "Bayer". Da der Vater vordem zweiten Weltkrieg in der Nähe von Dresden Rittergutsverwalter der Grafen Schönborn tätig war, versuchte er, auch nach der Vertreibung wieder als Landwirt tätig zu sein. Dies gelang ihm schließlich in Landsberg am Lech, und eigentlich war sein Sohn Ralf Rainer vorgesehen, diesen Bauernhof  einmal zu übernehmen. Doch das Schicksal wollte es ganz anders.
   Nach den Traunsteiner Aufenthalt wechselte Ralf Rainer Stegemann auf die Handelsschule in Landsberg am Lech, legt dort auch die Prüfung der mittleren Reife ab und ging dann zunächst auf die bekannte Dekorationsfachschule nach München. Als Dekorationslehrling war er beim Kaufhaus Oberpollinger tätig. Nach der Gesellenprüfung ging er für zwei Jahre zu seinen Eltern auf den Bauernhof und ein weiteres Jahr auf einen anderen Gutsbetrieb und schloss diese Tätigkeit mit einer zweiten Gesellenprüfung erfolgreich ab.
   Ende der sechziger Jahre, "als die Mode für Männer noch triste war", begann Ralf Rainer Stegemann in einem Stoffgeschäft in Landsberg, bunte Vorhangstoffe zu schicken Herrenhemden umzuarbeiten. Diese Hemden fanden im  Freundeskreis solchen Anklang, dass die Geschäftsführerin der Firma Strachowitz vorschlug, er solle seine modische Fähigkeiten doch gewerblich nutzen. Stegemann griff die Anregung sofort auf, und schon bald wurde in Landsberg "die gesamte Weiblichkeit  bis zu Frau Oberbürgermeister", von dem Amateurschneider angekleidet.
   vermutlich wäre es bei diesem kurzen Ausflug in das Reich der Mode geblieben, wenn nicht noch ein zweiter Zufall dazugetreten wäre. In dem Landsberger Geschäft kam Stegemann mit der ehemaligen Absolventin der Deutsche Meisterschule für Mode in München, Frau Evi Wagner, zusammen. Durch Ehe und Nachwuchs bedingt, Hatte sie ihre Tätigkeit vorübergehend eingestellt, trug sich nun aber mit dem Gedanken, wieder als Schneiderin zu arbeiten. Sie bot Stegemann an, bei ihr als Lehrling zu arbeiten, und dieser schlug so gut an, dass er 1969 seine Gesellenprüfung als Innungssieger ablegen konnte. dabei hatte er noch das Pech, daß aufgrund des plötzlich vorverlegten Prüfungstermins seine Meisterin in Urlaub war und er das Gesellenstück völlig alleine herstellen musste. In der folgenden Zeit arbeitete Stegemann als Zuschneider bei einer Konfektionsfirma in Kaufering. Eine als Cutterassistentin im Bavaria Filmatelier in Geiselgasteig tätige Cousine vermittelte ihn in das eigene Kostümatelier dieser Firma, das damals gerade eingerichtet worden war und unter der vorzüglichen Leitung von Frau Charlotte Flemming stand. Nach einem Jahr bei der Bavaria kam Stegemann als Nunmehr 27jähriger aufgrund seiner Begabung zur Meisterschule für Mode nach München, wo  er neben 24 Damen der einzige Mann war. Es folgten vier Semester, bis er im Sommer 1972 auch dort erfolgreich abschloss. Seine Pläne waren nun Volontariate bei en großen Modehäusern der Welt, wobei er in Paris beginnen wollte.
   Doch wieder hatte es das Schicksal anders vorgesehen. Ralf Rainer Stegemann lernte nun nämlich in München im Shalom-Club die junge israelische Sängerin Nizza Thobi kennen, die er im Januar 1974 heiratete. Nachdem er zwischenzeitlich gesehen hatte, daß die Anfertigung von Film- und Theaterkostümen ein eigenes Geschäft durchaus trägt, machte er sich selbständig. Das erste Atelier war in Giesing in der Untersbergstraße. 1975 wurde es in der Marschallstraße 1 verlegt. Bis 1978 der Sohn David geboren wurde, arbeitete die Ehefrau - wenn sie nicht gerade mit Schallplattenaufnahmen anderwärtig beschäftigt war -mit viel Energie und Fleiß selbst im immer besser laufenden Kostümatelier mit.
   Ralf Rainer Stegemann ist heute in erster Linie auf alle Arten von Show-Kostümen spezialisiert. Sein Atelier hat u.a. an der Ausstattung der Sendungen "Musik für Millionen", "Musik ist Trumpf", "Starparade", "Stars in der Manege" mitgearbeitet. Auch bekannte Spielfilme wie z.B. Berlin Alexanderplatz, Lili Marlen, Väter und Söhne, Enemy Mine mit dem Oskarpreisträger Lou Gosset wurden von ihm ausgestattet.
   Für eine durchschnittliche Fernsehshow müssen ca. 40 bis 50 Personen bekleidet werden, wobei jedes Kostüm aus sieben bis acht Teilen besteht. dabei finden nur sehr teure Materialien Verwendung, da sie vom Ausdruck her kaum gleichwertig ersetzt werden können. Besondere Stoffe bezieht Stegemann aus dem Ausland, vor allem aus der Schweiz.
   Sein reicher Fundus von 3000 Kostümstücken wird Nicht nur von Film und Fernsehen, sondern vor allem auch vom Theater gerne angefordert. Hier zählen u.a. die Herrenchöre und Solisten der alljährlichen Wagner-Festspiele in Bayreuth, die Staatsoper Hannover, die Frankfurter und die Wiesbadener Oper, das Theater an Gärtnerplatz und das Boulevardtheater "Kleine Komödie" zu seinen Kunden. An bekannten Stars kleidete Ralf Rainer Stegemann u.a. Maria Schell, Hanna Schygulla und Caterina Valente ein. Auch für die Auftritte von Mary Roos entstanden die Kostüme in der Marschallstraße 1. Das Atelier arbeitet das ganze Jahr ohne Unterbrechung auf vollen Touren. Gerade die Termine der wichtigen Aufträge sind oft sehr knapp und sollten eigentlich schon "gestern" fertig sein.
   Dass bei Ralf Rainer Stegemann Beruf und Hobby eins sind, versteht sich, sonst wäre er wohl nicht in der Lage, diesen ständigen Termindruck überhaupt auszuhalten. kaum war die Werbeausstattung von 50 Bienenkleidern für Langnese-Honig fertig, ging es mit voller Kraft schon wieder an die Ballettausstattung für die offizielle Vorstellung des neuen BMW der fünfer Serie im Frühjahr 1988. Die wirklich freie Zeit ist sehr knapp. In ihr beschäftigt sich der Couturier mit seinem Sohn oder liest kunstgeschichtliche Bücher, wobei sei Hauptinteresse hier neben Frankreich und Italien vor allem Israel gilt.
 

München Mosaik
September/Oktober 1988
Walter Grasser
Foto: Bettina Böhmer

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